Das Kunstmuseum Bern zeigt rund 200 Werke seiner Sammlung aus der Perspektive von Sigmund Freuds Text zu den drei narzisstischen Kränkungen des Menschen. Die umfangreiche Sammlungsausstellung zeigt neben zahlreichen Meisterwerken von Arnold Böcklin, Ferdinand Hodler, Albert Anker, Adolf Wölfli und Félix Vallotton auch Werke von bisher weniger beachteten Künstlerinnen wie Annie Stebler-Hopf oder Clara von Rappard. «Alles zerfällt» ist die erste von Marta Dziewañska am Kunstmuseum Bern kuratierte Ausstellung.
Ausgangspunkt der Ausstellung ist Sigmund Freuds Schrift von 1917 zu den drei narzisstischen Kränkungen der Menschheit. Freud zufolge haben drei wissenschaftliche Entdeckungen das Selbstverständnis des Menschen grundlegend erschüttert: Das Kopernikanische Weltbild, Charles Darwins Evolutionstheorie und Freuds eigene Lehre des Unbewussten. Was Freud in seinem Aufsatz als narzisstische Kränkungen bezeichnet, ist die Einsicht, dass der Mensch weder Mittelpunkt des Universums noch Herrscher über die Natur und sein eigenes Bewusstsein ist.
Die Entzauberung der Welt
Die Ausstellung thematisiert die Stimmung der Unsicherheit, die Entzauberung der Welt, aber auch die Weltflucht und Sehnsucht nach Sagenhaftem. In den Werken dieser Zeit tauchen vermehrt Spiegel, Zwitterwesen und Innenräume auf, Objekte und Symbole des verunsicherten Ichs. Menschen werden undefinierbar, entfremdet und flüchtig wiedergeben, die klare Vorstellung vom Ich zerfällt immer mehr. Idyllische Landschafts-malereien weichen einem bedrohlichen und monumentalen Naturbild. Die Spannung zwischen dem Belebten und dem Unbelebten zeigt sich besonders in Ferdinand Hodlers «Aufstieg und Absturz» (1894). Die fehlende Distanz, die Monumentalität, die Unmöglichkeit, der Szene einen Rahmen zu geben, sowie die bedrohliche Kraft der Natur sind hier vermengt mit einem Gefühl von Tragödie und Triumph. Der Mensch wird zum unbedeutenden Faktor angesichts der übermächtigen Natur. Werke wie Gabriel Loppés Darstellung «Das Matterhorn» (1867) zeigen eine karge Alpenlandschaft mit scharfkantigen Eisspitzen, in deren Umgebung die zwei Wanderer zu verschwinden scheinen. Gemälde wie Arnold Böcklins berühmte «Meeresstille» (1887) schaffen eine fabelhafte Gegenwelt zur eigenen Realität der Gründerzeit und thematisieren so Traum und Wirklichkeit. Personen werden nicht mehr nur nachgezeichnet und abgebildet, sondern richten ihren Blick nach innen. Albert Anker hält unverklärt und mit psychologischer Schärfe Bildnisse von alten Menschen oder einem Trinker fest und Ferdinand Hodler zeigt in seinem berühmten Selbstbildnis «Der Zornige» den Moment einer inneren Regung. Das verunsicherte Ich kämpft jedoch nicht nur mit dem Bewusstsein, nicht vollkommen Herr über das eigene Innenleben zu sein. Auch die Aussenwelt gerät zusehends ins Wanken. Die bruchstück- und oft skizzen-haften Kunstwerke spiegeln da-bei die Unmöglichkeit wider, eine objektive und umfassende Darstellung der (Aussen-) Welt zu vermitteln.
Thematisierte Rundgang
Die Schau im Kunstmuseum Bern zeigt Schweizer Kunst des 19. und frühen 20. Jahr-hunderts, darunter bedeutende Werke von Ferdinand Hodler, Arnold Böcklin, Paul Klee, Félix Vallotton, Cuno Amiet und Alexandre Calame. Neben den Highlights der bekannten Schweizer Maler sind auch Werke von bisher weniger beachteten Künstlerinnen wie Annie Stebler-Hopf oder Clara von Rappard zu sehen. Die Ausstellung ist als thematischer Rundgang angelegt, der in rund zehn Stationen die menschliche Verunsicherung angesichts der wissenschaftlichen Entwicklungen beleuchtet. Die Werke zeigen beispielsweise die Auseinandersetzung der Künstler mit der Erfahrung des Fremden im eigenen Selbst, zeigen Identitätskrisen und Schwindel, die Erfahrung der übermächtigen Natur und präsentieren Wesen, die halb Mensch, halb Tier sind.
«Die Idee hinter ‹Alles zerfällt› ist es, die historische Sammlung aus zeitgenössischer Perspektive zu betrachten und ihr aktuelle Fragen zu stellen. Die Ausstellung will das Spektrum der möglichen Interpretationen des bisherigen Kanons er-weitern, ihn öffnen, alternative Lesearten vorschlagen und ein neues Licht auf Geschichte und Tradition werfen. Mich interessiert insbesondere, wie historische Kunstwerke zum Spiegel der zeitgenössischen Kunst werden können und wie sie grundsätzliche Fragen und Herausforderungen der Gegenwart vorwegnehmen,» sagt Marta Dziewañska, Kuratorin des Kunstmuseums Bern.
pd
Weitere Informationen unter:
www.kunstmuseumbern.ch