Luzi Stamm unterhält sich mit alt Nationalrat Geri Müller
Zum ersten Mal wurde Geri Müller bekannt, als er vor der UNO-Abstimmung auf dem Podium gegen Christoph Blocher antrat, weil kein Nationalrat gefunden werden konnte, der gegen Blocher antreten wollte. In der Folge schuf er sich politisch den Ruf, sehr unabhängig zu sein und sich durch niemanden einbinden zu lassen. Die Linke hatte keine Freude, als er auf über 80 Podien gegen Schengen-Dublin antrat und sich öffentlich gegen die «Mauer um Europa» aussprach.
Der Höhepunkt bei seiner Arbeit im Nationalrat war das Präsidium der Aussenpolitischen Kommission. Dabei wurde gelegentlich sogar als «heimlicher Aussenminister» («der kühle Stratege in der Libyen-Krise») bezeichnet, da er sehr oft auch in ausländischen Fernsehprogrammen zu sehen war. Er forderte nach dem Kosovo-Konflikt beharrlich, dass die Ermordung von Kriegsgefangenen zwecks Organentnahme unter-sucht werden müssen. Sein Engagement für die Einhaltung der Menschen- und Völkerrechte in Palästina brachte ihm heftige Kritik ein. So wurde seine Wahl zum Stadtpräsident von Baden von Tel Aviv bis New York diskutiert, 2014 wurde er durch die «Affäre Geri Müller» bekannt.
Wie haben Sie diese «Affäre» überlebt?
Geri Müller: Die Medienwoche sprach nicht von der Affäre Geri Müller, sondern vielmehr von einer «Medien-Affäre». Nach dem «Shitstorm» wurde kaum erwähnt, dass meine Gegnerschaft zur Verantwortung gezogen wurde. Ich möchte betonen, dass auch die Staatsanwaltschaft gegenüber der Gegenseite von Amtes wegen ein Verfahren eingeleitet hat. Es ist unangenehm, fünf Jahre in den Headlines als Täter zu stehen, um im November 2019 nur in Randnotizen zu lesen, dass die Prozesse nun endlich beendet seien.
Das Ganze war aber sehr schmerzhaft für Sie:
Ja, die ersten Wochen waren schlimm, derart durch den Dreck gezogen zu werden. Ich sagte mir: Was immer Dir geschieht, nie darfst Du so tief sinken, von dem Kakao, durch den man Dich zieht, auch noch zu trinken. Ich habe den Leuten, die mich angegriffen haben, verziehen und schaue nach vorne, es gibt ja noch so viel zu tun (lacht). Heute spüre ich jeden-falls in der Bevölkerung, egal welcher Couleur, viel Sympathie.
Mussten Sie wegen dieser Affäre aus dem Nationalrat zurücktreten?
Mein Rücktritt hat nichts damit zu tun. Ich bin 2015 aufgrund des Versprechens von 2011 gegenüber der Grünen Partei Aargau zurückgetreten, nicht mehr als Nationalrat zu kandidieren, wenn ich als Stadtammann gewählt würde. Beide Mandate zu führen, wäre zu schwierig geworden, weil ich als Stadtammann mit der Verantwortung für die Reorganisation der Finanzen, der Verwaltung, der Regionalpolitik etc. sehr grosse Aufgaben vor mir hatte.
Mit was beschäftigen Sie sich heute?
Beruflich reaktivierte ich im Januar 2018 meine Firma Gibellina-Arts AG, die aus zwei Teilen besteht: einem Musikverlag mit unseren vielfältigen Werken und der Distribution von Tonträgern. Zudem arbeite ich wie-der als Regisseur und Coach im Theater und Film.
Politisch engagiere ich mich für den Aufbau in Somalia und in Palästina. Ich bin Präsident der «Gesellschaft Schweiz Palästina». Ich war kürzlich in Palästina. Dort wird Weihnachten gefeiert wie bei uns. Es ist ein grosses Fest für alle, unabhängig von der Religionszugehörigkeit. Die Orte sind nachts genauso mit Lichtern geschmückt wie hier. Weil es dort wenige Tannen und noch weniger Schnee gibt, wird es mittels Plastik ersetzt (lacht!). Man hört wie bei uns Weihnachtslieder.
Was für eine Art von Menschen sind die Palästinenser?
Es ist erschreckend, wie wenig die Öffentlichkeit über Palästina und deren Bewohner weiss. Vielen kommt nur Yassir Arafat und die damalige PLO in den Sinn. Die PalästineserInnen sind ein sehr aufgeschlossenes Volk mit überdurchschnittlich guter Bildung. Die unter 30-Jährigen gelten weltweit als sehr gut ausgebildete Gesellschaft. Dies verdanken sie unter anderem den UNO-Organisationen, die selbst in Flüchtlingslagern eine Grundbildung ermöglichen (dies sollte auch an anderen Orten installiert werden, wie z.B. Somalia, es würde die Frustration und damit Terrorgefahr erheblich reduzieren). Die Leistungen in Wissenschaft, Wirtschaft, Architektur, Medizin und IT sind bemerkenswert. Im israelischen Teil Palästinas sind z. B. 24% der ÄrztInnen auf allen Stufen PalästinenserInnen.
Woher kommen die Probleme der Palästinenser?
Während des Ersten Weltkriegs teilten sich die die Briten (Süden) und die Franzosen (Norden) das Gebiet auf und versuchten, es zu kolonialisieren. Mit Lineal zogen sie Grenzen, was für die gut entwickelte Bevölkerung in der ganzen Region, die Einheimischen in Syrien, Libanon, Palästina/Israel, Irak, Jordanien grosse wirtschaftliche Probleme ergab. Das britische Mandatsgebiet Palästina wurde von der UNO im Teilungsplan von 1947 in einen jüdischen und einen palästinensischen Teil aufgeteilt, was wohlgemerkt gegen den Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker verstoss. Die im Land an-sässige Bevölkerung war im Prozess nicht involviert und konnte nicht abstimmen. Bis 1949 wurden mehr als 700’000 PalästinenserInnen vertrieben, viele getötet und misshandelt. Die PalästinenserInnen nennen das die Nakba, zu Deutsch, die Ka-tastrophe.
Sie versuchen mit Ihrer Organisation, uns Palästina näher zu bringen.
Ja; zum Beispiel kulturell. Letzten September fand im Zürcher KOSMOS das erste «Palestine Arts Filmfestival» statt. Die Vorstellungen waren bis auf eine Ausnahme alle ausverkauft. Das Publikum war ausgesprochen vielfältig, tendenziell jung und weiblich. Vom 23. Bis 26. April 2020 folgt bereits die zweite Ausgabe, es werden wieder grossartige Filme gezeigt.
Wir schaffen auch eine Win-Win-Situation zu Gunsten der Wirtschaft: In den Schweizer Unternehmen fehlen über 30’000 IT-Fachkräfte. Solche gibt es in Palästina, die für Schweizer Unternehmen arbeiten könnten, ohne in die Schweiz ziehen zu müssen. Sie sind sich an das «Remote-Employment» gewohnt, d.h. Arbeit am PC mit Fernzugriff. Wir machen diese Möglichkeit in der Schweiz bekannt. Zudem arbeiten wir an Kooperationen mit Schweizer Universitäten.
Wird offenbar 2020 für Palästina ein besonderes Jahr?
Ja, Bethlehem wird dieses Jahr als Kulturhauptstadt der arabischen Welt geehrt. Wir hoffen, dass Menschen aus aller Welt dort mitfeiern. Die «Gesellschaft Schweiz Palästina» hat Plakate von einer Designerin (Ronza Kamel) aus Bethlehem entwickeln lassen, auf dem wir die SchweizerInnen ermuntern, Bethlehem und Palästina zu besuchen. Es gibt dort auch viele Wander- und Bikerwege, um Natur, Kultur und Wellness zu geniessen. Die Gastfreundschaft ist ausserordentlich, das Essen vielfältig und gesund, selbst Wein- und Bierliebhaber kommen mit lokalen Eigenheiten auf ihre Kosten. Palästinensische Reiseagenturen verdienen es, berücksichtigt zu werden, womit Arbeit und Entwicklung in der Region gefördert werden. Auf unserem Plakat und Flyer kann man bequem den QR-Code scannen und dort auswählen.
Hoffen Sie, dass Palästina wieder einmal wirtschaftlich aufblühen wird?
Ja; die Menschen arbeiten daran, dass in dieser Region wieder eine Rückkehr zu Wohlstand möglich wird. Palästina war während seiner erfolgreichen Zeit auf das Mittelmeer ausgerichtet, womit anfangs des 20. Jahrhunderts Jaffa zu einer der lebendigsten und kosmopolitischsten Städte des Nahen Ostens mit Tageszeitungen und Theatern wurde. In ihrem Um-land wurden über Jahrhunderte Orangen kultiviert, der Export der palästinensischen (!) «Jaffa Orangen» wurde durch den Hafen gewährleistet. Das Zusammenleben zwischen den Religionen war kein Problem, der Bevölkerung ging es überdurchschnittlich gut.
Steigt die Gefahr im Nahen Osten wieder?
Die Reaktion auf 9/11 mit der erwiesenermassen gelogenen Begründung, der Irak produziere Massenvernichtungswaffen, war ein schwerer Fehler. Pauschale Verurteilungen und sozusagen Angriffe auf alles, was sich bewegt hat, nahm seinen Lauf. Die «Araber» wurden pauschal als rückständige, dumme Aggressoren dargestellt, obwohl die Angriffe von Saudis (nicht von Afghanen oder Irakis) aus-geführt wurden. 2015 holte Syrien die Russen und Iran zur Hilfe. Heute agiert Iran als Regionalmacht und interveniert dann, wenn sie zur Hilfe geholt werden.
Heute ist klar: Der Rückzug der Amerikaner im Nahen Osten hat immerhin dazu geführt, dass die Saudis wieder direkt mit den Iranern und Jemeniten sprechen, was den Jemenkrieg entspannt hat.
Den Rückzug sehe ich als Chance für alle. Damit endet das «Teilen und Herrschen» vor allem in Bezug auf die Religion. Nicht sie hat das Problem verursacht, sondern die kolonialistische Haltung der Europäer und Amerikaner, denen es um die Fossilen Stoffe ging. Die Milliarden, die durch den Ölgewinn den Fürsten gegeben wurden, wurden für Waffen eingesetzt, um ihre Bevölkerungen zu unterdrücken. Jetzt muss das Geld für die Entwicklung der Menschen und für das Grundproblem Wassermangel investiert werden.
Interview:
Luzi Stamm
Zur Person
Geri Müller war 1990-91 Einwohnerrat in Baden, 1995-2003 Mitglied des Grossen Rats und Frakionspräsident der Grünen (Einsitz in Bildungs-, Gesundheits-, und zahlreichen Spezialkommissionen). 2003-2015 sass er im Nationalrat, wo er in der Aussenpolitische Kommission, der Geschäftsprüfungskommission und der Sicherheitskommission eine sehr aktive Rolle spielte. Zudem war er ab 2006 Stadtrat von Baden (Exekutive), ihm unterstand das Ressort Bildung. 2013-17 war er Stadtammann von Baden.