Kolumne
Noch nie waren so viele Stellen offen wie heute. Die Wirtschaft sucht verzweifelt nach Fachkräften. Wir müssen das Problem bei der Wurzel packen – und der Berufslehre wieder jenen Wert geben, den sie verdient.
Als Unternehmer bereitet mir der zunehmende Fachkräftemangel Sorgen. Insbesondere im Baugewerbe wird es immer schwieriger, gute Fachkräfte zu finden. Meine Erfahrungen im eigenen Unternehmen widerspiegeln sich auch in der Statistik: Noch nie gab es so viele offene Stellen wie heute. Gemäss dem Stellenmarktmonitor der Universität Zürich hat der Fachkräftemangel vom Sommer 2020 bis zum Sommer 2021 um 27 Prozent zugenommen.
Dasselbe Bild zeigt sich bereits eine Stufe tiefer, also bei den Lehrstellen. So haben im Kanton Zürich dieses Jahr 650 Lehrlinge eine Berufslehre in der ICT-Branche abgeschlossen. Demgegenüber stehen aber rund 2’500 offene Stellen. Die Diagnose ist schnell gestellt: Angesichts des grossen Fachkräftemangels entwickelt sich die Ausbildung des Nachwuchses zu langsam. Auch die Zuwanderung kann die Lücke nicht schliessen.
Viele Lehrstellen bleiben unbesetzt
Wie ausgetrocknet der Lehrstellenmarkt in der Schweiz insgesamt ist, zeigt folgende Zahl: Im letzten Jahr konnten rund 12 Prozent der Lehrstellen nicht besetzt werden. Das ist kein Ausreisser, denn der Anteil der nicht besetzten Lehrstellen nahm in den letzten Jahren kontinuierlich zu. Besonders dramatisch ist die Situation im Baugewerbe: Dort blieben im letzten Jahr 27 Prozent der Lehrstellen unbesetzt.
Dahinter stehen auch gesellschaftliche Entwicklungen. Während das Interesse insbesondere der jungen Frauen an einer gymnasialen Ausbildung stark zunimmt, sinkt die Attraktivität der Berufslehre. Dabei sehen die Aussichten für die vielen Absolventinnen und Absolventen der beliebten geistes- und sozialwissenschaftlichen Studienrichtungen alles anderes als rosig aus. Wie Valentin Vogt, der Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, kürzlich in der «Tagesschau» sagte, bildet die Schweiz jährlich rund 10’000 Sozial- und Geisteswissenschaftler aus. Der Markt könne aber nur 3000 davon aufnehmen.
Dank Berufslehre keine Jugendarbeitslosigkeit
Wir müssen uns also dringend überlegen, was wir zur Förderung der Berufslehre und damit auch zur Behebung des Fachkräftemangels tun können. Ich sehe ein Bündel von Massnahmen, wobei sich Gesellschaft, Wirtschaft und Politik gleichermassen beteiligen müssen.
Auf gesellschaftlicher Ebene braucht es wieder mehr Wertschätzung für die Berufslehre. Wir müssen den Jugendlichen vermitteln, welche handfesten Chancen und Möglichkeiten eine Berufslehre bringt und dürfen die Lehre gegenüber einem Studium nicht abwerten – das gilt für das Elternhaus, die Schule wie auch die Politik. Denn die Lehre ist und bleibt attraktiv. Dank ihr gibt es in der Schweiz kaum Jugendarbeitslosigkeit, im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich oder Spanien, wo ein Grossteil der jungen Menschen keinen Job findet. Das Modell der Schweizer Berufslehre ist durchlässig und bietet ein Sprungbrett für Weiterbildungen und Karrieren aller Art.
Stipendien streichen, Handwerk fördern
Ich will aber auch die Unternehmen nicht aus der Pflicht nehmen. Im Arbeitsalltag kann ich beobachten, wie wichtig es ist, dass wir die Lehrstellen attraktiv gestalten; dass wir Anreize bieten, um die Ausgebildeten in den Berufen zu halten; dass sie Perspektiven haben und sich weiterentwickeln können.
Schliesslich bleibt auch die Politik gefordert. Im Kanton Aargau fordern die bürgerlichen Parteien, unterstützt vom Gewerbeverband, dass der Regierungsrat aufzeigt, wie die Berufsbildung und die Berufsmatura gestärkt werden können. Ein ketzerischer Gedanke: Vielleicht müssten wir uns auch überlegen, ob wir weiterhin mit Steuergeldern so viele Studentinnen und Studenten ausbilden wollen, die dann vielfach keinen angemessenen Job finden. Ich bin sicher, dass die eine oder der andere es sich zweimal überlegt, ein Studium in Angriff zu nehmen, wenn der Staat weniger Kosten übernimmt. Dabei gilt es zu vermeiden, dass nur noch Reiche studieren können. Ich denke an eine Limitierung der Studienplätze in Fachrichtungen, die in der Arbeitswelt wenig gefragt sind, die Verhinderung von «ewigen Studenten» und daran, dass Stipendien zwingend zurückzuzahlen sind.
Als Unternehmer und optimistisch eingestellter Mensch will ich aber nicht mit Schwarzmalen schliessen, sondern mit etwas Positivem: Ich bin überzeugt, dass der Fachkräftemangel mittelfristig dazu führen wird, dass das Handwerk wieder den Wert erhält, den es verdient. Gut ausgebildete Handwerker werden gesuchter sein denn je. «Handwerk hat goldenen Boden» – das alte Sprichwort hat nichts von seiner Gültigkeit eingebüsst, im Gegenteil.